Am 19. August 2010 wurden in der Friedenauer Stierstraße 4 drei Stolpersteine verlegt:
Louise Kerz, die Witwe von Leo Kerz, für dessen Familie die Stolpersteine verlegt wurden, reiste mit ihren beiden Söhnen aus New York zur Übergabe dieser Stolpersteine an die Öffentlichkeit an. Louise Kerz beschreibt mit folgendem Text, wie sie die Verlegung der Stolpersteine erlebt hat:
Während die letzten Töne der Dudelsäcke des 11. September am Ground Zero verklingen, schreibe ich über ein anderes Gedenken – tausende von Meilen und viele Jahre entfernt. Eine Erinnerung an eine Tragödie, die wir aufrecht erhalten sollen und die an jene gemahnt, die uns genommen wurden und an die Vorsätze, die wir haben, wenn wir zurückblicken.
Ich hatte nach einem Weg gesucht, dreier tragischer Opfer des Holocaust zu gedenken. Dann erreichte mich eine unglaubliche Nachricht aus Deutsch-land: Ob ich mit der Kerz-Familie verwandt sei.
Mein Herz bebte, mein Wunsch wurde von einer jungen Frau beantwortet, Petra Fritsche, deren Stolperstein-Gruppe mit umfangreichen Untersuchun-gen die Geschichte der Angehörigen einer verlorenen Generation zum Leben erweckt.Während der nächsten Monate erfuhr ich einiges über diese Gruppe und den Künstler Gunter Demnig. Ihr Anliegen ist es, die deutsche Bevölkerung über ihre jüdischen Nachbarn und die Mitglieder des Widerstands gegen die Nazis, die in den Konzentrationslagern umkamen, zu informieren.
Im August stand ich vor einem Gebäude, um einer Familie Lebewohl zu sagen, die ich nie kennen gelernt habe. Meine Gefühle überwältigten mich. Dies sind meine Gedanken zu diesem Tag:
HERE LIVED ……. HIER WOHNTE
(Einweihung von drei Stolpersteinen für die Kerz-Familie in der Stierstraße 4, Berlin-Friedenau, Deutschland)Es war ein gutbürgerliches Stadtviertel mit schön renovierten Wohnhäusern an einer baumbestandenen Straße mit kleinen Vorgärten… vergleichbar der Upper Eastside von Manhattan. Ich war von New York mit meinen beiden Söhnen, Jonathan und Antony gekommen, um an einer besonderen Zeremonie teilzunehmen zu Ehren der Eltern und der Schwester meines ersten Ehemannes, Leo Kerz, der ein bekannter Bühnenbildner am Broadway war. Er war der Nazi-Pest entkommen und nach Südafrika geflohen, aber seine Familie war in Sobibor, einem KZ in Polen, umgekommen – zusammen mit tausenden anderer Juden.
Petra Fritsche, Mitglied einer Bürgerinitiative in Deutschland, der Initiativgruppe Stolpersteine, war mit mir in Kontakt getreten. Wir tauschten e-mails über die Geschichte der Kerz-Familie aus. Schließlich wurde ein Datum festgesetzt, an dem die Einweihung der drei Stolpersteine, die vor dem Haus gesetzt werden sollten, in dem die Familie in Deutschland zuletzt gewohnt hatte, stattfinden sollte. Der engagierte Künstler Gunter Demnig schuf Messingplatten, die in den Bürgersteig eingelassen werden, welche die Namen verfolgter Opfer der Nazizeit dokumentieren. Es sind inzwischen etwa 24.000 Steine, die er seit 1993 in ganz Deutschland gelegt hat.
Angetan mit Arbeitskleidung und Knieschützern, verlegte der Künstler eigenhändig mit großer Sorgfalt drei glänzende Platten in den Bürgersteig. Sie erinnern an die schon lange vergessenen Nachbarn in der Stierstraße. Diese beständigen Erinnerungsstücke tragen folgende Information:
Hier wohnte
Charlotte Kerz
Jg. 1914
Flucht 1934 Holland
Deportiert 25.05.1943
Sobibor
Ermordet 28.5.1943Hier wohnte
Nechuma Kerz
Geb. Spira
Jg. 1891
Flucht 1934 Holland
Deportiert 25.05.1943
Sobibor
Ermordet 28.5.1943Hier wohnte
Nathan Kerz
Jg. 1914
Flucht 1934 Holland
Doportiert 25.05.1943
Sobibor
Ermordet 28.5.1943Der Zeremonie wohnten über 50 Menschen bei: Mitglieder der Stolpersteingruppe, Nachbarn allen Alters, eine Abgeordnete der SPD und der berühmte deutsche Autor Rolf Hochhuth.
Leo Kerz stattete 1963 die in Berlin stattfindende Welturaufführung des Hochhuth-Stückes Der Stellvertreter aus. Das Stück hinterfragt das Schweigen des Papstes Pius während des Holocaust und war ein herausragendes Beispiel für die Arbeit des deutschen Regisseurs Erwin Piscator und seines realistischen Theaters. Nur wenige Stücke brachten dieses Thema auf den Punkt, und es hatte eine durchschlagende Wirkung auf das Welttheater. Ich, Leos Frau, war eine junge Zeugin der Anhörungen, der juristischen Streitigkeiten und der Eröffnungsvorstellung. Trotz der anhaltenden Proteste und der Polizeiabsperrungen, die außerhalb des Theaters aufgestellt worden waren, hat Bürgermeister Willy Brandt gegenüber Piscator versichert, dass das kontroverse Stück aufgeführt würde.
Es war eine unerwartete aber passende Überraschung, dass der achtzigjährige Autor Hochhuth unter den Leuten auf der Straße war, als die Stolpersteine verlegt wurden.
Die Feierstunde in der Stierstraße begann mit einem Brecht/Eissler-Song, gespielt auf einer einzelnen Trompete – es folgte eine Begrüßung durch Petra Fritsche. Dann sprach Sigrun Marks, eine Sprecherin der Gruppe, über den Kölner Künstler Gunter Demnig und darüber, wie die Stolpersteine selbst ein sichtbarer Aufruf an die Verantwortung der Deutschen sind, dass NIE WIEDER solche barbarischen Verbrechen begangen werden dürfen…
Dann wurde die Geschichte der Familie Kerz geschildert. Nathan, ein erfolgreicher Modedesigner und Produzent mit über 30 Mitarbeitern, führte eine große Firma. Die Schwester Charlotte, deren Traum es war, Pianistin zu werden, wurde durch die Nazi-Gesetze daran gehindert. Die Familie floh nach Holland, wo Nathan starb. Nechuma und Charlotte starben einige Monate später im Konzentrationslager Sobibor.
Leo war der einzige Überlebende der Familie und floh nach Südafrika. Dort heiratete er zunächst die Olympiateilnehmerin Martel Jacob. Später hatte er mit seiner zweiten Frau Rosa Resi Kerz die beiden Kinder Paul und Leonore. Er arbeitete am Johannesburger Theater bis 1941, als die Familie nach New York auswandern konnte. Sein Berliner Mentor Erwin Piscator und The New School öffneten ihm die Tür nach Amerika. Schließlich arbeitete er als Ausstatter am Broadway, sowie für Oper und Fernsehen.
Leo und ich trafen uns 1961, als er das legendäre Stück Die Nashörner am Broadway produzierte. Ich wurde seine Assistentin; später heirateten wir und bekamen zwei Söhne: Jonathan und Antony. Als Leo 1976 starb, schrieb John Russell, der Kritiker der New York Times in seinem Nachruf „…er war eines der letzten Bindeglieder der goldenen Zeit des Deutschen Theaters, die man mit Reinhardt und Piscator verbindet.“
Es war schwierig für mich, meine Anmerkungen zu dem Ereignis auszudrücken. Ich las die Briefe der Familie Kerz aus Holland, die ihr quälendes Warten auf die Visa, um endlich das Land verlassen zu können, beschreiben. Sie warteten vergebens auf Dokumente, die niemals ankamen; Es war wie ein Todesurteil. Leo lebte in Seelenqual für den Rest seines Lebens. Ja, er hatte eine erfolgreiche Karriere als Künstler, aber er war ein niedergeschlagener Mann, der vom Schicksal seiner Familie und seiner Unfähigkeit zu helfen, verfolgt wurde.
Heute ehren wir drei Menschen, die aufgrund ihrer Abstammung zusammen mit Millionen anderer Bürger ermordet wurden. Die Seelen dieser unschuldigen Opfer werden mit diesen ständigen Zeichen, die auf den Schrecken des Krieges hinweisen, weiter leben, so wie auch die Kerz-Familie. Als Amerikanerin deutsch-österreicherischer Herkunft und Christin bin ich von der Arbeit des Künstlers und seiner Helfer tief berührt. Die Worte Nie wieder werden durch diese Arbeit in den Fokus der jüngeren deutschen Generation gerückt.
Die Gedenkstunde in der Stierstraße 4 endet – und Tränen laufen uns über das Gesicht.
New York, 16. September 2010
Aus dem Englischen von Petra T. Fritsche, Okt. 2010